Unzuverlässige Narration im Medientext des Hörspiels
Eine alte Hausarbeit, den ich hier für den Blog noch ein klein wenig überarbeitet habe. Finde, es sind ein paar ganz nette Gedanken in Sachen Hörspiel drin...

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1 Einleitung
Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit Erzählstrategien im Medientext des Hörspiels. Dabei habe ich versucht herauszufinden, mit welchen Mitteln im Hörspiel Unzuverlässigkeit erzeugt werden kann. Durch ein Seminar an der Uni wurde ich für Unzuverlässigkeit in verschiedenen Medien sensibilisiert und habe beim Hören einiger Hörspiele versucht, auf derlei Erzählstrukturen zu achten, die den Hörer im Unklaren über die Wahrheit der Geschichte lassen.

Auf der gezielten Suche nach dieser narrativen Besonderheit habe ich mich mit den ersten dreizehn Folgen der Mystery Hörspielserie Gabriel Burns beschäftigt. Der Entschluss für genau diese Serie lag schon deshalb nahe, da es bei all den auftretenden Personen keinen Gabriel Burns gibt. Mit einem gewissen Potential war also zu rechnen. Doch nicht nur unzuverlässige Erzählstrategien im Medium Hörspiel lassen sich hier finden und darstellen, auch die grundsätzlichen Darstellungsformen lassen sich anhand dieser Serie hervorragend verdeutlichen.

Darüber hinaus ist die Serie eine der aufwendigsten Produktionen der letzten Jahre, bei der sehr viel Wert auf die Erfüllung einer Realitätserfahrung gelegt wird. Nicht zuletzt wurde wohl auch aus diesem Anspruch heraus die erste Folge in einer Special Edition als DVD mit 5.1 Dolby Surround Sound veröffentlicht. In der gesamten Hörspielwelt bislang ein einmaliger Vorgang, wohl auch aufgrund des hohen Aufwandes in Relation zum überschaubaren finanziellen Erlös eines Hörspiels.

In den hörspieltheoretischen Teilen der Hausarbeit stütze ich meine Ausführungen auf das Buch Medientext Hörspiel von Götz Schmedes. Aufgrund der Tatsache, dass der Autor im einleitenden Theorieteil seiner Arbeit viele verschiedene Positionen und Sichtweisen anderer Autoren erwähnt und bewertet, bietet sein Buch einen sehr guten Leitfaden, der die wesentlichen Züge und auch verschiedene Probleme des Mediums anspricht. Besonders die Aufteilung in fünf Zeichensysteme war nicht nur sehr aufschlussreich, sondern gleichermaßen hilfreich bei der Untersuchung zuverlässiger und unzuverlässiger Erzählstrukturen.

Ich habe versucht eine weitestgehend eigene Definition des Hörspiels aufzustellen, die auf Elemente bestehender Definitionen zwecks Verifizierung zurückgreift oder kommentierend eingeht. Dies ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass viele Hörspieldefinitionen grundsätzlich von der nahezu ausschließlichen Verbreitung über das Radio ausgehen. Eine Beschreibung des Hörspiels, die dem Umstand Rechnung trägt, dass sich Hörspiele mittlerweile zu einem ganz beachtlichen Teil auch auf Datenträgern wie der CD befinden, war leider nicht zu finden.

Obwohl ich mich für diese Hausarbeit noch einmal eingehend mit den ersten dreizehn Folgen der Serie beschäftigt habe, gehe ich nur an den Stellen auf den Inhalt ein, an denen hörspielimmanente Erzählstrategien zum Tragen kommen. Eine Inhaltsangabe der Serie gehört im Rahmen dieser Arbeit nicht dazu. Vielmehr waren die ersten dreizehn Folgen die Basis, auf der ich bestimmte Aspekte des Hörspiels verdeutlichen wollte. Ebenso eine gehört eine Einführung in die Serie Gabriel Burns zu der Hausarbeit. Für eine umfassendere Einführung in das Thema bietet sich die umfangreiche und gelungene Fan-Seite im Internet an: www.experiment-stille.de

Ursprünglich hatte ich für diese Hausarbeit eine Audio CD angefertigt, auf der einzelne Absätze mit Hörbeispielen und ergänzendem Kommentar versehen wurden. Aus urheberrechtlichen Gründen verzichte ich an dieser Stelle darauf. Die Kommentare wurden für den Blog an den Stellen, an denen es sinnvoll erschien, als Text ergänzt. Die Hörbeispiele wurden so gut es ging beschrieben oder sind in den einzelnen Folgen gut zu lokalisieren.


2 Die Hörspielserie Gabriel Burns – Beschreibung und Genreanalyse
Gabriel Burns ist eine Mystery-Thriller-Hörspielserie, die seit 2003 erscheint.
In der Presse wurde mehrfach festgestellt, dass es sich bei Gabriel Burns um eine neue Generation des Hörspiels handele[1]. Hin und wieder wird auch der Vergleich mit der TV-Serie Akte X bemüht, der im Bezug auf das Genre absolut gerechtfertigt ist und nur vor dem Hintergrund des anderen Mediums scheitert.

Steven Burns ist ein leidlich erfolgreicher, kanadischer Schriftsteller, der nebenbei in Vancouver Taxi fahren muss, um finanziell über die Runden zu kommen. Sein Leben hat im Alter von zehn Jahren eine dramatische Wendung bekommen, als er seinen Bruder Daniel bei einer Zauberaufführung tatsächlich verschwinden lässt und der bis zum heutigen Tag nicht mehr aufgetaucht ist. Die zweite dramatische Wendung hängt mit der Frau zusammen, die zu Beginn der ersten Folge in sein Taxi steigt. Am Hafen werden Steven Burns und die Frau überfallen, Steven wird niedergeschlagen. Als er wieder aufwacht, liegt die Frau aus dem Taxi tot neben ihm. Kurz darauf wird er festgenommen. Mit Hilfe eines mysteriösen Mannes, der sich Bakerman nennt, kommt er vorläufig frei unter der Bedingung, dass Steven für ihn einen Mann namens Bernard Cardieu im kanadischen Yukon Territorium suchen soll. Bakerman ist ein sehr undurchsichtiger Charakter, dessen Vergangenheit aber auch Gegenwart nebulös ist. Es wird nur deutlich, dass er in Kreisen der kanadischen Regierung unter Pierre Trudeau tätig war. Welche Stellung er heute einnimmt bleibt rätselhaft, jedoch scheinen seine Kontakte und Einflussmöglichkeiten immens. Außerdem beschäftigt er sich offenbar schon seit einiger Zeit mit Steven Burns, da er von dem Vorfall mit Daniel Bescheid weiß. Bakermans engste Mitarbeiterin ist Joyce Kramer, von der man allerdings auch nicht viel mehr zu sagen wagt, als dass sie sich sehr loyal gegenüber ihrem Vorgesetzten verhält. Darüber, wie viel sie von Bakermans Vergangenheit weiß, verliert sie kaum ein Wort.

In Dawson wird Steven Burns von Larry Newman am Flughafen empfangen, der ihn auf seiner ersten Mission in Eden Creek begleitet und unterstützt. Nach den dortigen Vorfällen ergänzt er das Team um Bakerman.

Im Verlauf der Reihe taucht immer wieder die Figur Luther Niles auf, auch mehrfach in einer Folge an ganz unterschiedlichen Orten. Der eigentliche Luther Niles ist schon lange tot, jedoch wurden aus dem Zellmaterial zahllose Kopien gezüchtet, die Bakerman und seinem Team immer wieder in die Quere kommen.

Nach den ersten Folgen wird das Thema deutlich, dass sich als für die Serie essentiell entwickeln soll; die Unsterblichkeit. Eine sehr wichtige Rolle scheint dabei Bakerman zu spielen, an dem die Zeit scheinbar spurlos vorübergeht. Später wird deutlich, dass er im Jahre 1936 kurzzeitig im Besitz eines Unsterblichkeitsserums namens Ilha Al Khalf war. Offensichtlich gibt es auch heute noch eine Jagd nach diesem Serum, zumindest aber gibt es Personen, die an einer synthetischen Herstellung interessiert scheinen. An den Einsatzorten von Bakermans Team erwachen immer wieder Tote zu neuem Leben, die aber kurze Zeit später qualvoll sterben oder sich auf brutale Art und Weise selbst das Leben nehmen. Das Serum scheint von der Haut eines schlangenartigen Meeresbewohners mit einem wolfsähnlichen Kopf zu stammen, die in der indianischen Mythologie als Wascos bezeichnet werden. Auch die kanadische Regierung scheint in diese Vorgänge involviert zu sein. Zumindest kann ein kanadisches Kriegsschiff als Ursprungsort eines Geräusches ausgemacht werden, dass diese Wascos anlockt.

Das zweite große Thema der Serie sind die Zauberfähigkeiten von Steven Burns. Mit ihnen scheint es ihm möglich die Nähe der sogenannten grauen Engel zu spüren, geflügelte Monster, die in der ersten Folge in Eden Creek auftauchen und dort schon einen Großteil der Bevölkerung auf dem Gewissen haben. Steven Burns scheint diese Wesen verschwinden lassen zu können, wie er auch schon seinen Bruder Daniel verschwinden ließ. Und überhaupt scheint er in der Welt der Hörspielserie nicht die einzige Person mit solchen Fähigkeiten zu sein. Steven Burns hingegen steht diesen Fähigkeiten zuweilen recht hilflos gegenüber. Er kann sie nicht gezielt kontrollieren und fällt nach jeder Anwendung in eine ausgiebige Ohnmacht.

In der Serie Gabriel Burns vermischen sich verschiedene Genres. Von der Plattenfirma wird die Serie als Mystery-Thriller geführt, womit eine durchaus treffende Beschreibung gefunden wurde. In den Definitionsgrenzen des Thrillers befindet sich der Rezipient stets auf Augenhöhe mit den dramatischen Figuren. Er weiß also genau so viel oder wenig wie diese, bevor die Rätsel letztlich aufgelöst werden[2]. Einer klassischen Definition des Mystery-Genres wird man hier jedoch nicht gerecht, was aber nicht an der Serie, sondern an der älteren, vorliegenden Definition des Begriffes liegt. Unter Mystery fallen nicht mehr nur Straftaten und die Ergreifung des Täters[3], sondern auch mysteriöse Begebenheiten im Sinne von übernatürlichen Vorgängen und politische Verschwörungen gegen die Hauptdarsteller. Aber auch einzelne Kennzeichen anderer Genres sind bei Gabriel Burns zu finden. So ist die Figur Bakermans als Stevens Auftraggeber dem Genre der Detektivstory entlehnt. Auch die Tatsache, dass der Hörer oft im Unklaren gelassen wird, welcher Struktur der „Gabriel Burns Kosmos“ folgt, erinnert an den grundsätzlichen Plot-Aufbau von Horrorfilmen, für die eine natürliche Aufschlüsselung der Geschehnisse nicht vorgesehen ist[4].

Die Produzenten und Autoren der Serie versuchen dabei auf allen ihnen offen stehenden Ebenen Spannung zu erzeugen. Allein die Figur des Erzählers spielt dabei eine enorm große Rolle, da er es ist, der die Hörer in das Geschehen ziehen kann[5]. Ein Satz wie: „Es ist an der Zeit, dass sie die Wahrheit erfahren!“, lässt einen Hörer nicht „draußen“, sondern erklärt ihn zum Teil dessen, was er in der nächsten Stunde hören wird. Diese Einbeziehung wird durch die Worte „Willkommen in Vancouver.“ des Erzählers zu Beginn noch einmal verstärkt.


3 Was ist ein Hörspiel – ein eigener Versuch
Beim Hörspiel handelt es sich um ein Audiodokument, dessen Inhalt aus der Realisation einer Textgrundlage hervorgeht. Dabei kann es sich um eine hörspielgenuine Realisation handeln, also eine Textgrundlage, die ausschließlich für das Hörspiel verfasst wurde, wie auch um eine Realisation im Sinne einer Adaption, bei der die Textgrundlage nicht für das Hörspiel ausgelegt war, sondern für die Umsetzung im Medium des Hörspiels eine Bearbeitung erfahren musste, zum Beispiel Kürzungen oder hörspielspezifische Ergänzungen. Dies lässt erkennen, dass eine Übertragung eines Hörspiels auf einen anderen Medientext nicht ohne weiteres möglich ist, da die Kennzeichen des Hörspiels wahrnehmbar bleiben[6]. Demzufolge ist das Hörspiel ein spezifischer Text, das sich deutlich von anderen Medientexten abgrenzen lässt, zugleich auch ein kulturelles und ästhetisches System.[7]

Gleichzeitig bleibt das Hörspiel von dem Menschen abhängig, der es hört. Der Hörer braucht eine Bereitschaft zur Imagination[8], um die gehörten Informationen vor seinem geistigen Auge entstehen zu lassen. In diesem Zusammenhang ist auch oft von der sogenannten „inneren Bühne“ die Rede. Dementsprechend sind die Bilder, die ein Hörspiel erzeugt nicht fest, wie die Darstellung einer textlichen Grundlage im Theater oder Film[9]. Der Rezipient lässt das Hörspiel erst im Moment der Wahrnehmung werden.

Inhalt der Textgrundlage sind Dialoge zwischen mindestens zwei Personen, Monologe, sowie die Position des (allwissenden) Erzählers, der oftmals Situationen und Szenen einleitet. Der Erzähler kann dabei aus dem Repertoire der dramatischen Figuren stammen, wie auch eine abgeschottete Position einnehmen, die ihm nur erlaubt Handlungsabläufe zu beschreiben, ihnen aber nicht aktiv beizuwohnen. Hauptmerkmal der Dialog- und Monologpassagen ist das situationsangepasste Sprechen der Figuren, das sich gewissermaßen alltagskonform verhalten sollte, will man die Illusion einer erlebten Handlung schaffen[10], so dass man beim Hörspiel von einer Form von Realitätserfahrung sprechen kann. Darin ist ein wesentlicher Unterschied zum Medientext des Hörbuchs zu finden, dessen Texte vorgelesen und nicht gespielt werden. Außerdem werden Hörbücher oft von einer Person gelesen, die eventuell zwar durch verschiedene Stimmlagen und Sprechhaltungen mehrere Figuren zu evozieren versucht, damit aber von einer Hörspielrealisation noch weit entfernt ist. Hierbei handelt es sich vielmehr um eine Form von akustischer Literatur, die eben stärker den Gesetzen der Literatur unterliegt als dem Medientext des Hörspiels. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Verarbeitung der literarischen Geschichte auf rein akustischem Terrain.[11]
Grundsätzlich lassen sich der Erzähler und die Monologe und Dialoge als die drei wichtigsten Erzählinstanzen im Hörspiel verstehen. Die Erzählerrolle ist der auktoriale Erzähler, der über der Erzählung schwebt, in diese in aller Regel aber nicht eingreifen kann, es sei denn, die Erzählerfigur stammt aus dem dramatischen Repertoire. Aber auch in einem solchen Fall übernimmt dieser Erzähler eine distanzierte Position gegenüber seiner Rolle in der Handlung. Die Figur des Erzählers befindet sich also zwischen der intradiegetischen und der extradiegetischen Ebene, indem er die Handlung beschreibt und kommentiert, aber in der Erzählerrolle selbst keinen Einfluss auf das Geschehen nehmen kann.

Die zweite Erzählinstanz sind der Monolog und der Dialog. Beide Möglichkeiten spielen sich auf einer gleichwertigen Ebene ab, nur der Umfang des teilnehmenden Personals variiert. Fest steht aber, dass auf der intradiegetischen Ebene Informationen qua dramatisches Personal vermittelt wird.

Diese beiden Erzählinstanzen können natürlich in jedem Fall von der dritten, nonverbalen Erzählinstanz unterstützt und verstärkt werden. In dieser Hinsicht ist die nonverbale Instanz theoretisch mit den beiden anderen frei kombinierbar. Sie unterscheidet sich von den ersteren vor allem dadurch, dass sie trotz des nichtsprachlichen Ausdrucks Inhalt vermitteln können und gleichzeitig sprachlichen Inhalt verstärken kann.

Personenunabhängige Zeichensysteme konstituieren und erklären sich im diegetischen Rahmen selbst, sie bedürfen keines figurativen Mittlers, der sie dem Hörer zugänglich macht.
Ziel der Realisation sollte es auch sein, die Umgebung der handelnden Figuren akustisch darzustellen, um die klangliche Atmosphäre einer Szene herzustellen. Jede Umgebung hat einen Einfluss auf die Stimmwiedergabe der Figuren, wie auch jeder Umgebung Symptome einer Geräuschkulisse zugeordnet werden können[12]. Gespräche in einer Kirche beispielsweise hallen nach und in szenischen Situationen an einem Strand wird man in aller Regel die Wellen hören, die sich am Ufer brechen. Zu diesen atmosphärischen Geräuschen kommen noch handlungsbedingte oder handlungstragende Geräusche hinzu. Darunter sind zum Beispiel Schüsse und Türknarren zu fassen, die dem Hörer nicht nur eine Idee von der Umgebung vermitteln sollen, sondern ganz klar die Aussage treffen, dass geschossen wird oder dass durch eine Tür gegangen wird.
Neben den Geräuschen spielt auch Musik eine wichtige Rolle in Hörspielen. Mangels optischer Darstellbarkeit ersetzt die Musik eine Zwischensequenz zu Ort- und/oder Zeitwechsel, wie man sie aus Filmen kennt. Dieses Element gibt es natürlich auch im Film, im Medientext des Hörspiels ist es jedoch die einzige handlungsfreie Möglichkeit der Darstellung von Zeit- und/oder Ortswechsel.

Ebenfalls wichtig wird die Musik in der Untermalung dramatischer Ereignisse. Verfolgungsjagden und Schlägereien kommen im Hörspiel nur selten allein mit den typischen Geräuschen aus. In aller Regel lohnt hier der Einsatz dynamischer, treibender Musik um nicht vorhandene Bildelemente zu kompensieren und die Szene akustisch erfahrbar zu machen.
Die hier aufgezählten elementaren Bestandteile des Hörspiels machen außerdem deutlich, dass es sich beim Hörspiel gewissermaßen um ein polymediales Medium handelt, das mehrere Mediensysteme zu einem neuen Medium vereint. Dementsprechend ist es schwierig die Zuständigkeit eines Wissenschaftsbereich für eine Theoriebildung zu klären.[13]

Hörspiele sind grundsätzlich auf allen Datenträgern denkbar, die in der Lage sind Audio-Informationen wiederzugeben. Die gängigsten Verbreitungsformen sind das Radio, die Compact Disc und die Kassette. Mittlerweile sind Hörspiele auch als reiner Datensatz käuflich zu erwerben, als mp3-Download bei entsprechenden Internet-Portalen. Vereinzelt gibt es auch noch Sammlereditionen auf Schallplatte. Neue Möglichkeiten für das Hörspiel könnten sich mit der DVD ergeben. Zu der Serie „Gabriel Burns“, die in dieser Hausarbeit zum Teil bearbeitet wird, wurde eine 5.1 Dolby Surround Version der ersten Folge herausgegeben.

Eindeutig widersprochen werden muss der Auffassung, dass Hörspiele hauptsächlich für das Radio gemacht sind. Zwar ist das Radio zweifelsfrei der Geburtsort des Hörspiels und als rein akustisches Medium für den rein akustischen Medientext Hörspiel konstitutiv[14], doch die Verbreitung auf anderen Datenträgern dürfte der Ausstrahlung von Hörspielsendungen mittlerweile ebenbürtig sein, sofern dies überhaupt vergleichbar ist.

Das Hörspiel ist also mehr als das „Ätherwesen“, das hauptsächlich durch das Radio verbreitet wurde. Jede Hörspielserie besitzt eine eigene Gestaltungsrichtlinie, die sich an dem jeweiligen Genre ausrichtet. Dadurch bekommt eine Serie auch ein Gesicht, das in diesem Medium nachweislich nicht notwendig wäre, da der Hörer es mit einem reinen Audio-Medium zu tun hat. Darin ist dann zu erkennen, dass sich das Hörspiel vom Radio emanzipiert hat und frei und zeitlich ungebunden rezipierbar geworden ist.

Fest steht, es gibt im Kinder- und Jugendbereich ein gutes Dutzend etablierter Serien. Der Erwachsenensektor der Hörspiele ist quantitativ nicht ganz so stark aufgestellt, in diesem Alterssegment scheinen Hörbücher stärker angenommen zu werden.


4 Fünf Zeichensysteme
4.0 Vorbemerkung
Der Medientext Hörspiel lässt sich im Wesentlichen in die folgenden fünf Zeichensysteme unterteilen. Dabei handelt es sich ausschließlich um die im Hörspiel wahrnehmbaren Zeichen. Ein geschriebener Text, das Hörspieldrehbuch, gehört selbstverständlich auch als Zeichensystem dazu, ist jedoch nicht direkt wahrnehmbar, sondern wird in den anderen Zeichensystemen vermittelt und erfährt deshalb hier keine Auflistung.

Die hier dargestellten Zeichensysteme funktionieren in dieser Kombination ausschließlich im Hörspiel und sind nicht auf andere Medientexte übertragbar. Emotionen, die im Film unter Zuhilfenahme von Mimik, Gestik und Stimme dargestellt werden, müssen im Hörspiel allein mit der Stimme auskommen. Aber auch in einem Medium, das dem Hörspiel näher steht, das Hörbuch, funktioniert diese Kombination von Zeichensystemen nicht, da in aller Regel auf eine Realisation im Sinne einer Realitätserfahrung verzichtet wird und lediglich eine akustische Variante des literarischen Textes vorliegt. Für eine Hörspieladaption sind in aller Regel mehrere Sprecher notwendig.

Die vorliegenden Zeichensysteme sind also konstitutiv für das Hörspiel und sollten grundsätzlich als zuverlässig verstanden werden. Jedoch besteht auch hier in der Kombination der Zeichen die Möglichkeit unzuverlässige Erzählhaltungen zu generieren, wie dies zum Beispiel bei Filmen der Fall ist. Dieser Themenbereich soll jedoch erst im Anschluss eine genauere Bearbeitung erfahren.

4.1 Sprache
Das Zeichensystem der Sprache spielt aufgrund der Gegebenheiten des Mediums Hörspiel die wichtigste Rolle in diesem Medientext. Jedoch muss im vorliegenden Fall eine Unterscheidung getroffen werden, zwischen Sprache als Ergebnis und Ausdruck von kognitiven Vorgängen im Alltag und Sprache als Ergebnis eines vorgelegten Drehbuchs oder Manuskripts.[15] Konstitutiv für die Sprache ist natürlich die Stimme und somit eine Figur als Träger dieser Stimme. Jedoch muss ebenfalls angemerkt werden, dass die Stimme ein eigenes Zeichensystem darstellt, dass im Folgenden auch erläutert wird.

Das Zeichensystem der Sprache lässt sich wieder in mehrere Bedeutungseinheiten unterteilen. Die Sprache folgt Regeln der Grammatik, setzt sich aus Wörtern zusammen, die sich wiederum aus Sinneinheiten ergeben. Die daraus entstandenen Informationsinhalte und Kodes sind für eine bestimmte Sprachgruppe verständlich, grundsätzlich aber auch für alle anderen Sprachgruppen qua Übersetzung oder Aneignung von Sprachwissen zu erschließen. Nach Morris gibt es fünf Kategorien aus denen sich Sprache ergibt[16]:

(1) Sprache ist aus einer Vielzahl von Zeichen zusammengesetzt

(2) In einer Sprache hat jedes Zeichen eine Bedeutung, die von der Sprachgruppe verstanden wird.

(3) Diese Zeichen müssen von den Mitgliedern der Sprachgruppe herstellbar und gleichermaßen für Hersteller und Interpreten die gleiche Bedeutung besitzen.

(4) Die Zeichen einer Sprache besitzen eine relative Bedeutungskonstanz, die sich auf die jeweilige Situation beziehen.

(5) die Zeichen einer Sprache entwickeln mitunter feste Verbindungen, die wiederum Bedeutungskomplexe bilden.

Sprache als das „gebräuchlichste, vielseitigste und komplexeste Kommunikationssystem“[17] bleibt immer an eine hörspielimmanente Figur gebunden. Dabei muss diese Figur sich noch nicht einmal selbst der Sprache bedienen, um dem Hörer als anwesend zu erscheinen, dies kann verbal auch durch andere Figuren erledigt werden. Eine weitere Möglichkeit ist der nonverbale Ausdruck der Figur, wodurch er seine Anwesenheit darstellt.[18]

Die beiden essentiellen Ausdrucksformen des Hörspiels sind der Monolog und der Dialog zwischen mindestens zwei dramatischen Figuren. Aus diesem Basismaterial der Informationsübermittlung lassen sich wiederum drei Präsentationsformen ableiten:[19]

(1) poetische Sprache (Erzählhörspiel)

(2) Alltagssprache (seit den siebziger Jahren im sozialkritischen Hörspiel, exklusive Originaltöne)

(3) Sprache als kompositorisches Material (Experimentalhörspiel)

Die Punkte (1) und (2) haben das gleiche Ziel; die Ausgestaltung einer Information um Zusammenhänge darzustellen, einmal poetisch, ein anderes Mal im Hinblick auf die Erzeugung einer Realitätserfahrung.[20] Für das experimentelle Hörspiel sind Bedeutungszusammen-hänge weniger relevant. Sprache kann hier vielmehr als phonetisches Material betrachtet werden, das vom jeweiligen Künstler in eine Form gebracht wird, die keinen Zusammenhängen mehr verpflichtet ist[21].

4.2 Stimme
Das Zeichensystem der Stimme lässt sich in drei Bereiche unterteilen.[22]

(1) der verbale Code

- hierunter lassen sich die sinnhaften Zeichen der Sprache fassen, wie bereits oben

beschrieben

(2) der paraverbale Code

- dieser beinhaltet die Ausgestaltung der Sprache mit Mitteln der Intonation, Betonung

oder Satzmelodie

(3) der nonverbale Code

- hierunter fallen alle stimmlich erzeugten Klänge, die jedoch nicht bedeutungstragend

im Sinne der Sprache sind, zum Beispiel Schreie, Räuspern oder Weinen


Die Stimme im Hörspiel kann einer dramatischen Figur oder dem epischen Erzähler zugeordnet werden[23], wobei hier auch Erzählstile möglich sind, die einer dramatischen Figur auch die Rolle des Erzählers zuweisen können.[24]

Eine besondere Bedeutung kommt der Intonation zu. Sie verbindet Inhalt und Vortrag und vermittelt somit Bedeutung. Inhalte mit unterschiedlichen Intonationen vorgetragen, führen zu anderen Bedeutungsmustern. Der/die Vortragende kann mit der Intonation seines Vortrag dem Inhalt eine ganz bestimmte Richtung geben, die aufzeigt, wie er/sie oder die dramatische Figur sich zu dieser Sachlage verhält; ernst, angeekelt, belustigt etc.

Daraus ergeben sich vier Funktionen von Intonation, die die Bedeutung des sprachlichen Inhalts verdeutlicht:[25]

(1) Amplifikation, Betonung und Akzentuierung des verbalen Inhalts,

(2) Modifikation, Veränderung der Sprechhaltung zur Vermittlung des Anlasses der sprachlichen Äußerung,

(3) Substitution, der Inhalt des Gesagten wird verändert, zum Beispiel ironisiert,

(4) Kontradiktion, der Inhalt des Gesagten wird umgedeutet.

Diese vier Funktionen könnten meiner Ansicht nach noch ergänzt werden um den Faktor der „Fremdeinwirkung“. Neben der Intonation des Sprechers gibt es die technische Möglichkeit verbal ausgedrückte Informationen stimmlich zu verfremden. Das Ergebnis, das sich der Hörer aus der Intonation erschlossen hat, bleibt davon grundsätzlich unangetastet. Die technische Verfremdung der Stimme gibt vielmehr Auskunft darüber, wo sich die dramatische Figur befindet. Wenn zu hören ist, dass die Stimme der Figur nachhallt, eröffnet sich für den Hörer ein begrenztes Repertoire von Möglichkeiten, wo sich die Figur befindet; in diesem Fall zum Beispiel Kirche, Keller oder Industriehalle. Diese Information wird nicht ausschließlich über Sprache vermittelt, die Position wird zuallererst durch das akustische Muster der Stimme in der jeweiligen Umgebung charakterisiert, der sprachliche Inhalt präzisiert diese Information. Die Position oder der Ort in einem Hörspiel muss nicht gezwungenermaßen ein lokalisierbarer Ort in der Realität der jeweiligen Hörspielwelt sein, denkbar ist auch ein anderer Bewusstseins-zustand, der durch technische Verfremdungen dargestellt werden kann.

Damit steht die technische Verfremdung genau in der Mitte zweier Zeichensysteme; Stimme und Geräusch. Grundsätzlich ist auch eine Stimme nur ein Geräusch, wenn auch mit sinntragenden Elementen. Dieses Stimmengeräusch vermittelt nach der technischen Bearbeitung mehr Informationen als noch vor der Bearbeitung.


4.3 Geräusche

Der akustische Bereich der Geräusche lässt sich mit zwei grundsätzlichen Wesenszügen beschreiben.

(1) Klang als Indiz[26]:

Hiermit ist der Klang oder das Geräusch in der Lage seinen Ursprung zu beschreiben. Das Geräusch ist also gleichermaßen Kennzeichen für die Existenz des verursachenden Gegenstandes.

(2) Klang als Schriftzeichen[27]:

Hier wird das Geräusch aus seinem Bedeutungszusammenhang mit dem ursprünglichen Klangkörper herausgenommen und wird zum Kennzeichen einer neuen, anderen Begebenheit. Dafür muss allerdings in dem meisten Fällen auch die Sachlage der Hörspielszene beschrieben werden. Beispielsweise wird aus dem Rascheln mit einer dünnen Plastikfolie das Prasseln von Regen. Der Hörer vernimmt dann im Idealfall nicht das Rascheln mit einer Plastikfolie, sondern empfindet die Geräusche aus den Lautsprechern als Regen. Dies geschieht dann nur, wenn das Geräusch im Zusammenhang mit der Kommunikation im Hörspiel kooperiert[28].

Damit ist auch die wichtigste Aufgabe des Geräusches im Hörspiel sehr gut umrissen, wie es bei Faulstich heißt, „die Hörbarmachung des Sichtbaren“[29]. Man könnte es aber genauso gut die Hörbarmachung des Unsichtbaren nennen, da die elementare Herausforderung des Hörspiels nun mal darin besteht, den Mangel an Bildern zu kompensieren. Sichtbar sind die Dinge im Hörspiel nur für die dramatischen Figuren, die wir wiederum nicht sehen können. Ein Hörspiel ist also gewissermaßen die Vertonung des Unsichtbaren. In diesem Aufgabenbereich hat das Hörspiel Techniken und Vorgehensweisen entwickelt, um nicht vorhandene Bilder qua einer In-Szene-Setzung von Kommunikationen und Klang zu evozieren. Dieses Zusammenspiel von Kommunikation, Handlung und daran angepasstes Geräusch nennt Schmedes Superzeichen[30], also ein Zeichen, dass sich aus verschiedenen Zeichensystemen zusammensetzt.

Geräusche sind überdies funktionale Bestandteile des Hörspiels im Rahmen der Erzeugung einer Realitätserfahrung. Sie können gliedernd eingesetzt werden, wenn es darum geht Szenen- und Ortswechsel zu verdeutlichen, untermalend, zur Erzeugung einer bestimmten Atmosphäre, die den Ort wiederum ausmacht, aber auch ganz eigenständig in der Handlung vorkommen. Besonders im Hinblick auf unzuverlässige Erzählstrategien werden Geräusche und deren Deutung noch eine Rolle spielen.

Ein ganz außergewöhnliches Beispiel für die Erzeugung von Raum und Atmosphäre ist in der Folge Nebelsee (8) zu finden. Steven Burns taucht in einem See. Die nächsten Minuten werden beherrscht von dem Erzähler und einer Mischung aus Dröhnen, Rauschen und musikalischen Klängen, die ein inneres Bild und Gefühl evozieren, als befände sich der Hörer mit dem Protagonisten unter Wasser. Die Vorgänge werden ausschließlich vom Erzähler beschrieben, auf die Möglichkeit eines inneren Monologs wurde nicht zurückgegriffen. Der Erzähler macht immer wieder Pausen, um die Geräuschkulisse stärker in den Vordergrund zu bringen. Stellenweise werden die Vorgänge nur flüsternd beschrieben, fast so als wolle er die gespannte Atmosphäre nicht stören und zu einer sehr intensiven Hörerfahrung beitragen.

4.4 Musik
Die Aufgaben der Musik im Hörspiel ähneln denen der Musik im Film. Den wesentlichen Unterschied zum Film besteht vor allem darin, dass Musik das Zeichensystem im Hörspiel ist, dass die Kommunikation in ihrer Bedeutung unterstützen kann, während (Umgebungs-) Geräusche lediglich atmosphärisch fungieren, da sie Teil der Handlung sind. Musik kann die Kommunikation der dramatischen Figuren begleiten und somit untermalen; hierbei spricht man von der Paraphrasierung[31]. Ebenfalls möglich ist eine Polarisierung[32], wobei Kommunikation, die im Vagen bleibt, einer Deutbarkeit zugeführt wird. Es besteht aber auch die Möglichkeit der Kontrapunktierung[33], bei der der Inhalt der Kommunikation nicht mit der Musik korreliert.

Eine besondere Position nimmt die Lautstärke der Musik ein. Je lauter Musik sich zu Geräuschkulisse und Kommunikation der dramatischen Figuren verhält, desto handlungsbestimmender wird sie[34]. Auf dem gleichen Lautstärkelevel mit Kommunikation und Atmosphäre, dient die Musik als Blende, die gleichberechtigt mit diesen Zeichensystemen Handlungen, Orte und Zeit miteinander verbindet. Befindet sich die Lautstärke unterhalb der Umgebungslautstärke, begleitet die Musik die Szene, ohne ihr eine Umdeutung oder Verstärkung zukommen zu lassen. In diesem Fall ist auch weiter zu unterscheiden, ob es sich um Hörspielmusik handelt, also Musik, die eine dramaturgische Funktion übernimmt oder ob es sich um Musik im Hörspiel handelt, die zum Beispiel im Hintergrund aus einem Radio zu hören ist, also stärker atmosphärische Funktionen hätte[35]. Geht die eingesetzte Lautstärke über den Pegel der Handlung hinaus, fungiert sie als Ausdruck dafür, dass die Handlung und Kommunikation allein nicht mehr ausreicht, um die Intensität des Augenblicks im Hörspiel darzustellen. Die Musik kann dann sogar die Funktion des Erzählens übernehmen. In der Folge „Nebelsee“ fällt der Charakter Agnes Webster ins Wasser und kann sich offenbar nicht selbst retten. Dies wird zuerst vom Erzähler dargestellt, bis dann die Musik den Todeskampf unter Wasser beschreibt.

4.5 Stille
Das Zeichensystem der Stille hat Bezüge zu allen hier beschriebenen Zeichensystemen, da sie eine bewusste Auslassung des jeweiligen Zeichensystems darstellt[36]. Demnach darf sie nicht verwechselt werden mit dem Schweigen oder der Pause im Zeichensystem der Sprache. Schweigen und Pausen sind Zustände innerhalb dieses Zeichensystems[37]. Bei der Stille handelt es sich vielmehr um die bewusste Auslassung sinnlich-wahrnehmbarer Informationen. Somit kann ihr auch ein ordnender Charakter zugesprochen werden, denn letztlich ist die Stille vom Klang abhängig, wie der Klang von der Stille abhängig ist, die sich gegenseitig konstituieren und determinieren[38].


5 Die Subjekt/Objekt-Problematik im Medientext des Hörspiels
Vor der Beschäftigung mit zuverlässigen und unzuverlässigen Erzählstrategien möchte ich noch einen kurzen Exkurs einfügen, worin der Frage nachgegangen wird, mit welcher Perspektive der Hörer es eigentlich beim Hören eines Hörspiels zu tun hat.

Eine eindeutige Aufgabe des Erzählers ist es, dem Hörer das Geschehen zu beschreiben. Hierdurch wird der Hörer in eine objektive Position gebracht. Er folgt der Handlung durch die Worte des Erzählers. Inwiefern der Erzähler zuverlässig ist, steht an dieser Stelle noch nicht zur Diskussion. Der Hörer ist nicht unmittelbar am Geschehen beteiligt, erlebt also objektiv, mit einer gewissen Distanz.

Der Position des Erzählers kann aber auch noch eine andere Funktion zukommen. Diese sieht vor, den Hörer quasi in das Hörspiel hinein zu holen. Dies bedeutet neben der sachlichen Beschreibung der Umgebung auch eine atmosphärische Beschreibung der Umgebung dem Hörer zuteil werden zu lassen. In diesem Moment spricht der Erzähler nicht mehr eine rein informationsgesteuerte Wahrnehmung des Hörers an, sondern auch eine empfindungs-gesteuerte Wahrnehmung. Über die Beschreibung hinaus erlebt der Hörer eine Atmosphäre an der er durch den Erzähler unmittelbar teilnimmt. Hier ergibt sich ein definitorisches Problem, da eine strikte Trennung zwischen objektiver und subjektiver Wahrnehmung hier schwierig wird. Der Erzähler spricht die Wahrnehmung des Hörers an, dem dadurch die Erfahrung eines subjektiven Empfindens ermöglicht werden soll. Dabei handelt es sich nicht um Beschreibungen, die besagen, dass eine dramatische Figur friert, in diesem Fall wäre der Hörer einer objektiven Wahrnehmung ausgesetzt, da er von außen dem Zustand einer Figur ansichtig wird. Vielmehr müssten allgemeinere Beschreibungen eingesetzt werden, die den Hörer auch unabhängig vom dramatischen Personal einbeziehen. Ein selbst erdachtes Beispiel: „Der Wind war kälter geworden und trug nun eisige Kristalle über die Stadt.“ Es wäre allerdings vermessen in solchen Fällen von einer eindeutig subjektiven Wahrnehmung zu sprechen. Schließlich bleibt der Erzähler in solchen Fällen als Vermittlungsinstanz bestehen und das heißt, dass eine solche Wahrnehmung immer nur mittelbar, aber nicht unmittelbar ablaufen kann. Fest steht aber auch, dass der Erzähler in diesem Fall seine objektive Erzählhaltung verlässt und sich für eine Erzählhaltung öffnet, die über die bloße Informations-vermittlung hinausgeht und die affektive Wahrnehmung der Hörer anspricht.

Somit ergeben sich für die Erzählinstanz des Erzählers zwei wesentliche Aufgabenbereiche:

1. die objektive Beschreibung
2. die subjektivistische Objektbeschreibung

Das heißt, dass eine objektive Beschreibung unter der Zuhilfenahme von subjektiv erfahr- und/oder vorstellbaren Elementen erfolgt.

Ein ganz anderes Problemfeld ergibt sich beim Verhältnis zwischen der Erzählinstanz Dialog/Monolog und dem Hörer, die sich mit zwei Fragen zuspitzen lassen: ´Wo bin ich?´ und ´Bin ich wer?´. Die erste Frage macht deutlich, dass der Hörer sich fragt, welche Position er im Hörspiel einnimmt. Er ist eindeutig und in jedem Fall ein Rezipient. Es liegt die Vermutung nah, dass der Hörer eine Position neben dem dramatischen Personal einnimmt, für das er obendrein unsichtbar und unansprechbar bleibt. In diesem Moment nimmt der Hörer eigentlich eine objektive Position ein, vor allem weil er nicht in die Handlung eingreifen kann. Auch hier ergeben sich meiner Meinung nach definitorische Ungenauigkeiten. Der Medientext des Hörspiels baut qua Vermittlung einer Realitätserfahrung die Grenzen zwischen Subjektive und Objektive ab. Als Hörer befindet man sich im Zustand eines integrierten Ausgeschlossensein.

Dies bringt mich sogleich zu der zweiten Frage: ´Bin ich wer?´ Aufgrund mangelnder Bild-information kann eine Subjektive theoretisch nie ausgeschlossen werden. Höre ich eventuell als Steven Burns Bakermans Geschichten von einem Unsterblichkeitsserum aus Libyen? Dies mag natürlich auch einzelfallweise mit dem Identifikationspotential einer jeden Figur zusammenhängen. Aber es bleibt leider nur eine theoretisch mögliche Sichtweise einer Hörspielnarration. Deutlich wird das, wenn man die explizite Darstellung subjektiver Wahrnehmung vom Hörspiel vermittelt bekommt, es also durch die Atmosphäre deutlich wird, dass ich eine aufkommende Ohnmacht gerade als Steven Burns wahrnehme. Dies geschieht entweder durch eine Veränderung des Klangbildes, indem beispielsweise Geräusche dumpfer dargestellt werden und somit die Benommenheit des Protagonisten darstellen. Aber auch eine rein objektive Wahrnehmung, die den Hörer also in einer intradiegetischen Position eine deutlich objektive Wahrnehmung vermitteln, sind durchführbar. Diese Szenen sind vor allem als dem eigentlichen Geschehen vorgeschaltete Zwischensequenzen denkbar, wenn beispiels-weise ein sich nähernder Zug hörbar ist und sie Handlung dann in den Zug schaltet und wieder eine halb-subjektive, halb-objektive Wahrnehmung ist.

In der ersten Folge der Serie gibt es ein sehr prägnantes Beispiel für den Wechsel dafür, wie die objektive Narration durch eine Veränderung des Klangbildes in eine subjektive geführt wird. Der Taxifahrer Steven Burns wird am Hafen niedergeschlagen und verliert das Bewusstsein. Dargestellt wird dies durch eine dumpfe, wabernde Geräuschkulisse, die letztlich an einem Handlungsort, außerhalb der Jetzt-Welt der Geschichte endet. Damit ist der Wechsel in die subjektive Narration vollzogen. Der Wechsel in die Jetzt Welt wird auch wieder durch Veränderungen des Klangbildes erreicht.

Selbstverständlich gibt es auch Einstellungen, bei denen der Hörer eindeutig objektiv auf das Geschehen blickt. In einer Folge wird Joyce Kramer von Luther Niles gezwungen aus dem Fenster zu springen. Wir hören die letzten Meter des Sturzes und wie Joyce auf ein Auto aufschlägt. Als Hörer befinden wir uns ungefähr auf Sichthöhe des Wagendachs. Zum einen weil der Aufschlag sehr laut dargestellt wird und zum anderen, weil wir den lauter werdenden Schrei als näher kommend interpretieren.

Zusammenfassend könnte also gesagt werden, dass der Hörer sich zum größten Teil in einer Position zwischen subjektiver und objektiver Sichtweise befindet, aus der er für kurze Zeit in eine eindeutig subjektive oder eindeutig objektive Position gebracht werden kann. Verglichen mit dem Film ist das Hörspiel ebenfalls multiperspektivisch, nur dass hier eine durchgängige Zuordnung der Fokalisierung aufgrund der aufgeführten Beispiele nicht gewährleistet werden kann. Das „unausweichliche Sehen“[39] ist eine informatorisch höhere Erkenntnisquelle als das unausweichliche Hören, welches das Sehen auf die innere Bühne der Phantasie des Hörers verlagert und somit individuell verschiedene Fokalisierungen entstehen lassen kann, abgesehen von eindeutigen Zuordnungen bei Null-Fokalisationen des auktorialen Erzählers[40] oder entsprechend interner oder externer Fokalisation, die auf technischer Ebene erzeugt werden können.

6 Unzuverlässige Narration – Sprache, Stimme und Geräusche
Der erste Punkt, der bei unzuverlässige Narration in Hörspielen angesprochen werden muss, ist die Sprache als wichtigste und konstituierende, bedeutungstragende Einheit des Mediums. Zurückzuführen ist dieser Umstand natürlich auf die Tatsache, dass es im Hörspiel nichts zu sehen gibt. Die auditive Wahrnehmung ist die Grundvoraussetzung um eine Realitätserfahrung qua Hörspiel zu ermöglichen. Die Sprache steht noch vor allen anderen Zeichensystemen, da die Sprache zu einem großen Teil notwendig ist, um den anderen Systemen eine Bedeutung zu geben. Abgesehen von nonverbalen Äußerungen, braucht die Stimme Inhalt aus dem System der Sprache um überhaupt bedeutend zu sein. Dieser Inhalt wird durch die Stimme artikuliert und „gefärbt“, also einer übergeordneten Bedeutung zugeführt. Ähnlich verhält es sich mit Geräuschen, die in den meisten Fällen durch das Zeichensystem der Sprache verifiziert werden müssen, um das Geräusch xy als solches erkennen zu können. Die meisten Hörer haben ein Vorstellung davon, wie es sich anhört, wenn eine Pistole aus einem Holdster gezogen wird, gefolgt von dem typischen Klicken, das verdeutlichen soll, dass die Waffe entsichert ist. Dennoch kommt in solchen Hörspielszenen oftmals noch der Zusatz aus dem System der Sprache: „Der Kerl hat ´ne Knarre!“

Sprache ist also die erste bedeutungstragende Einheit im Hörspiel. An diese Feststellung schließt sich die Frage an, wann und wie innerhalb dieses Zeichensystems Unzuverlässigkeit erzeugt werden kann. Das Medium der Sprache ermöglicht unzuverlässige Narration in der jeweiligen Erzählhaltung des homodiegetischen oder heterodiegetischen Erzählers, von denen beide im Hörspiel vorkommen können. Letzterer nimmt in den meisten Hörspielen die Funktion des verbindenden Elements zwischen Handlung und Hörer wahr. Doch auch der Ich-Erzähler, der einen direkten Bezug zur Handlung hat, kann diese Funktion übernehmen, indem er dramatischen Figuren im Hörspiel Sachverhalte erklärt, die weder diese Figur, noch praktischerweise der Hörer wissen kann und nimmt in diesem Fall eine quasi-hetero-diegetische Position ein. Darüber hinaus ist natürlich auch der sprachlich geäußerte dramaturgische Inhalt stets der Gefahr ausgesetzt, nicht vertrauenswürdig zu sein. Bezogen auf das vorliegende Beispiel der Serie Gabriel Burns wird das Vertrauen auf verschiedene Art und Weise strapaziert. Zum einen heißt der Protagonist schon mal gar nicht Gabriel, wie der Titel der Serie andeutet, sondern Steven. Eben dieser fällt aufgrund seiner übernatürlichen Begabung regelmäßig einer ausschweifenden Ohnmacht zum Opfer. Die Geschehnisse während der geistigen Abwesenheit des Hauptdarstellers werden ausgerechnet von den Figuren Bakerman und Joyce Kramer repetiert, die im Kosmos dieser Serie eher den Status innehaben, sehr sparsam mit der Weiterleitung ihres Wissens umzugehen. Beide Figuren erzeugen durch unterschiedliche Aussagen gegenüber verschiedenen Personen (misreporting[41]), wie auch durch gezieltes Auslassen von wichtigen Informationen (underreporting[42]) eine starke Unsicherheit, nicht nur beim dramatischen Personal, natürlich auch beim Hörer. Häufig wird ihre Haltung mit Formulierungen gerechtfertigt, dass es zum Beispiel noch zu früh sei Steven in alle Geheimnisse einzuweihen. Die Differenz entsteht dabei zuerst zwischen den Aussagen von Bakerman und Joyce Kramer und den unfassbaren Vorgängen um sie herum. Eine Verstärkung erfährt diese, wenn besagte Anmerkungen zum Tragen kommen, die zwar den Schluss zulassen, dass beide mehr wissen als sie preisgeben, aber dennoch ihren Status als Geheimnisträger wahren können.

Etwas anders verhält es sich bei der Erzählinstanz des Erzählers, der im Fall der Serie Gabriel Burns eindeutig als unzuverlässig eingestuft werden muss. Obwohl er nie direkt in die Geschehnisse eingebunden ist, scheint er mehr zu wissen, als man es einem Erzähler in einem Hörspiel zutrauen mag und muss ihn somit ebenfalls als möglichen Geheimnisträger in Frage kommen lassen. Die mitunter sehr kryptischen Anmerkungen zu Beginn jeder Folge, lassen ahnen, dass er mehr weiß, als es zunächst den Anschein hat. Auch hier wird also eine Differenz erzeugt, die zwischen der Begleitung der Handlung und andeutungshaften Anmerkungen entstehen.

Das Berufsbild des Erzählers wird in dieser Serie etwas weiter gefasst. Normalerweise gibt der Erzähler Randnotizen, leitet Szenen ein und macht den Hörer auf nicht sichtbare Elemente aufmerksam. Damit ist er quasi eine Funktion um eine Realitätserfahrung entstehen zu lassen.
Unser Erzähler jedoch nimmt für sich nach der Titelmelodie oft in Anspruch noch mehr zu wissen.

Der Hörer bekommt den Hinweis, dass der Erzähler von den schrecklichen Begebenheiten weiß, genaue Hinweise bleiben jedoch aus, so dass der Erzähler und seine mögliche übergeordnete Rolle immer im Hinterkopf des Hörers bleiben muss. Manchmal sind die Hinweise des Erzählers sehr kryptisch und lassen kaum erkennen, was er mit seinen Worten gemeint haben könnte. Oft wird die Bedeutung auch in der jeweiligen Folge nicht klar.

Hier entsteht auch eine Form der Unzuverlässigkeit und zwar auf der diegetischen Ebene durch die Erzeugung einer Differenz zwischen den merkwürdigen Andeutungen des Erzählers und dem Wissensstand der Hörer. Im Laufe des Hörspiels wird dieser Eindruck nochmals verstärkt, weil sich auch nicht so einfach ein Bezug der Aussagen zu der Handlung herstellen lässt.

Im Folgenden sind Auszüge der einleitenden Sätze des Erzählers aus den ersten zehn Folgen aufgelistet:

Folge 1 Ich muss von den schrecklichen Begebenheiten berichten... Es wäre ein verhängnisvoller Fehler die Menschen darüber im Unklaren zu lassen... Es ist an der Zeit, dass sie die Wahrheit erfahren...

Folge 2 Ich muss die Menschen an meiner Angst teilhaben lassen(...) es könnte einmal ihr Leben retten. Ich kehre nun zurück in jene Stadt in der alles seinen Anfang nahm…

Folge 3 Ich muss mehr von meinem Wissen preisgeben...

Folge 4 Immer wieder kehren meine Gedanken zurück. Ich spüre wie das Unheil einsickert, sich ausbreitet wie ein Geschwür…

Folge 5 In der Dunkelheit holt sie mich ein, die Erinnerung. An Geschehnisse jenseits unserer Vorstellungskraft gefangen in ständiger Furcht. Schlafen einfach nur schlafen.

Folge 6 Die Zeit, sie wird kommen, schon bald. Noch hetzt sie die wenigen, die sich dem Unausweichlichen entgegenstemmen, vergebens...

Folge 7 Die Erinnerung sie kehrte zurück. Steven sah das Photo vor seinem geistigen Auge, aufgenommen vor 30 Jahren im Garten seiner Eltern, da waren seine Mutter, sein Vater und ein Mann, der die Familie beobachtete. Bakerman war seitdem nicht einen Tag gealtert.

Folge 8 Jenes unfassbare Böse, wir fühlen es von Anfang an. Und die Furcht davor, sie bleibt, für immer.

Folge 9 Manchmal stirbt das Leben schnell, erbarmungslos, ohne eine Spur zu hinterlassen und mit ihm stirbt die Wahrheit in einem einzigen Moment blendenden Lichts.

Folge 10 Es existieren Gerüchte, Legenden von Orten an denen sich jene vermehren, die für uns nichts als Abscheu empfinden.

Es wird also deutlich, dass auf der diegetischen Ebene theoretisch an allen Stationen Unzuverlässigkeit erzeugt werden kann. Die Position der Erzählinstanz in der Erzählung spielt im vorliegenden Fall keine entscheidende Rolle. In der Rolle des Hörers eines Hörspiels ist man – noch stärker als im Film – den Informationen des Erzählers und des dramatischen Personals ausgeliefert. Gewissermaßen befindet man sich in einem Zustand permanenten underreportings, dem man nur nach mehrmaligem Hören des Hörspiels angemessen begegnen kann. Hier spielt also auch die Auseinandersetzung des Rezipienten mit dem Medium eine wichtige Rolle[43]. Die Frage muss in meinem Verständnis der Sachlage bis hierhin also nicht lauten, ob Narration in einem Medium unzuverlässig ist, sondern, ob die narratologischen Elemente einer einzelfallweisen Zuverlässigkeitsprüfung standhalten.

Doch bei den vorangegangenen Beispielen handelt es sich nicht um hörspielimmanente Möglichkeiten Unzuverlässigkeit zu erzeugen. Diese angedeuteten Formen sind auch im Medium des Films denkbar, da sie nur auf der diegetischen Ebene stattfinden. An dieser Stelle soll Unzuverlässigkeit am Hörbefund gezeigt werden, der sich nicht anderweitig erschließen lässt.

In diesem Zusammenhang wird die Stimme sehr wichtig. Sie ist es, die eine dramatische Figur in der Handlung ausweist. Durch die Stimme wird eine Figur wieder erkennbar, sie ist quasi das Gesicht, das nur gehört werden kann. Wie bereits erwähnt, gibt es verschiedene Möglichkeiten dem sprachlichen Inhalt mit Hilfe der Stimme eine erweiterte Bedeutung zu geben, den Zusammenhang des Gesagten mit der umgebenden Situation, in der sich die dramatische Figur befindet, zu verbinden. Das Gesagte verbindet sich mit dem Bedeuteten. Eine Unterart der Intonation ist die Sprechhaltung, die die Wahrnehmung der Figur für den Hörer mitbestimmt. Die Sprechhaltung bedeutet nichts, sie ist der Faktor, der Faktor, der die Figur neben dem Klang der Stimme ausmacht. Ändert sich diese Sprechhaltung, wird es für den Hörer schwieriger den Sprecher eindeutig zu identifizieren. In Anlehnung an visuelle Medien wie den Film oder das Theater könnte man sagen, dass der Sprecher eine Maskerade angelegt hat, die ihn für den Zuschauer nicht sofort eindeutig erkennbar werden lässt. Im Fall des Hörspiels hieße das also eine Person, die ihre alltagsgebräuchliche, lockere Sprechhaltung zugunsten einer strengen, gefaßten Sprechhaltung aufgibt, wird unter Umständen vom Hörer nicht sofort erkannt, vielleicht ist dies sogar genauso vorgesehen. Ein Beispiel aus der ersten Folge von „Gabriel Burns“ macht die Wichtigkeit der Sprechhaltung deutlich, deren Effekt in der Folge durch underreporting noch gesteigert wird.

Zu Beginn des Hörspiels lernen wir den taxifahrenden Autor Steven Burns kennen, der eine junge Frau zum Hafen fahren soll. Am Hafen kommt es zu einem Überfall, bei dem Steven Burns niedergeschlagen wird. Als er das Bewusstsein wieder erlangt, liegt er in einem Hotelzimmer, neben der Frau aus dem Taxi. Um ihn herum ist alles Blut verschmiert, die Frau ist tot. Von dem Polizisten, der Steven festgenommen hat, erfahren wir später, dass die Frau Joyce Kramer heißt. Im weiteren Verlauf des Hörspiels taucht Joyce Kramer wieder auf, jedoch fällt es schwer sie zu erkennen. Sie wird vom Erzähler immer nur als Frau an der Seite eines Mannes bezeichnet. Außerdem spricht sie in diesen Szenen sehr wenig und auch in deutlich anderem Sprachduktus wie noch im Taxi von Steven Burns.

Unzuverlässigkeit wird hier mit dem Mittel der Sprache und der Stimme erzeugt. Der Erzähler vermeidet bewusst die Namen der beiden Personen (Underreporting!). Dass es sich bei dem Mann um Bakerman handelt ist hörbar. Sein Sprachduktus variiert im Vergleich zu seinem ersten Auftritt nicht und kann somit schnell wiedererkannt werden. Stimme und Intonation von Joyce Kramer unterscheiden sich deutlich vom ersten Auftritt im Taxi. Eine beschwingte, fröhliche Intonation ist einem sachlich-neutralen Stil gewichen. Deshalb kann sie nicht sofort vom Hörer erkannt werden. Die Gewissheit, dass es sich bei der Frau tatsächlich die ganze Zeit um Joyce Kramer gehandelt hat, bekommen wir erst am Ende der Folge.

Diese Methode der veränderten Sprechhaltung hat aber nicht nur die Funktion Unzuverlässigkeit zu erzeugen, sondern kann noch ganz andere praktische Nebeneffekte haben. So ist es vorstellbar durch nuanciert unterschiedliche Sprechhaltungen ein Zwillingspaar im Hörspiel darzustellen. Wie groß dieser Unterschied ist, liegt in der Vorgeschichte der jeweiligen Handlung begründet. Da dem Hörer der Sichtbefund gänzlich fehlt, muss das Hörspiel auf diese Unterscheidung zurückgreifen. Ein weiteres Argument für den Einsatz unterschiedlicher Sprechhaltung ist im wirtschaftlichen Bereich einer Hörspielproduktion zu finden. Ein Sprecher kann grundsätzlich in mehreren Folgen unterschiedliche Charaktere sprechen. Dies spart dem Regisseur die Suche nach vielen verschiedenen Sprechern. So kann ein Sprecher in kurzer Zeit theoretisch seine Zeilen aus dem Hörspielscript mit dem Produktionsteam aufnehmen und hat nach einer Woche Arbeit das Material für vier Hörspiele aufgenommen. Müsste man immer auf die Verfügbarkeit aller Sprecher zu einem bestimmten Termin warten, würde die Herstellung einer Hörspielfolge wesentlich länger dauern. Dass diese Vorgehensweise üblich ist, zeigt ein Blick auf die Serie John Sinclair 2000, bei der der Sprecher Jochen Malmsheimer mit verschiedenen Sprechhaltungen in mehreren, auch direkt aufeinander folgenden Teilen auftritt. Ein ebenfalls bekanntes Beispiel ist der Sprecher Andreas von der Meden, der durch unterschiedliche Sprechhaltungen sogar in ein und derselben Folge in zwei Rollen vorkommt. Von der Meden spricht in der Jugendhörspielreihe „Die drei ???“ die Figur des Chauffeurs Morton, wie auch die Rolle von Skinny Norris, des Erzfeindes der drei Detektive.

Eine weitere Möglichkeit Unzuverlässigkeit im Hörspiel zu erzeugen, findet sich bei den Geräuschen. Nicht nur, dass die eingesetzten Geräusche, die der Realitätserfahrung des Hörspiels dienen sollen, oftmals mit den absurdesten Gerätschaften hergestellt werden, also nicht zwingend Aufnahmen des auditiv dargestellten Gegenstandes sind[44], stellenweise können Geräusche allein durch den Klang nicht als das Darzustellende vom Hörer ausgemacht werden. An dieser Stelle ist demnach eine Erzählinstanz notwendig, die dem Hörer die grundsätzlichen Gegebenheiten der Szenerie andeutet. Bleibt dies aus, kann der Hörer den Ursprung des Geräuschs nicht ausmachen, es ist ja nichts zu sehen. An dieser Stelle kommt die Erzählinstanz ins Spiel. Neben der naheliegendsten Lösung, den Erzähler oder die dramaturgischen Figuren für die Aufklärung sorgen zu lassen, besteht auch die Möglichkeit das erste Geräusch einem zweiten Folgegeräusch zuzuordnen, das eindeutiger ist und den Sprechern die erste Identifikationsleistung abnimmt, so dass nur noch eine Präzisierung vorgenommen werden muss. Nach Schmedes würde ein Geräusch, dass durch eine personale oder auch nonpersonale Erzählinstanz benannt wird, aus dem symbolischen in den ikonischen Zeichenmodus versetzt.

Nachdem Steven Burns und Larry Newman auf dem Weg nach Eden Creek eine Person angefahren haben, hören sie im Wald ein Geräusch, dessen Verursacher sich alsbald offenbaren soll. Anfang und Ende des Geräusches werden mit einem kurzen Signalton markiert. Hier findet sehr schnell die Umwandlung von einem symbolischen in einen ikonischen Zeichenmodus statt. Der Ursprung scheint der Bär zu sein, der aus dem Wald auftaucht. Der Hörer kann also ein Geräusch direkt einem Gegenstand oder im weitesten Sinne einer Figur zuordnen. Doch auch hier haben wir es mit einer unzuverlässigen Narration zu tun. Das gleiche Geräusch taucht an anderer Stelle erneut auf, als Steven und Larry den Leichnam von Garland Vogt finden.

Hier könnte durchaus die Person, die auf Steven und Larry geschossen hat, für das Geräusch verantwortlich sein. Erst als die beiden zum dritten Mal Ohrenzeuge werden, fragen sie sich, worin genau die Ursache liegen könnte. Für den Hörer findet wieder eine Rückführung des Geräusches in den symbolischen Zeichenmodus statt. Erst durch den Hinweis von Miss Aspen weiß der Hörer, dass das Geräusch von den Grauen Engeln stammt. Damit wird es endgültig in den ikonischen Zeichenmodus gebracht.[45] Die Zuordnung von Geräusch und Verursacher ist vollzogen und erst ab hier zuverlässig im Sinne von bestimmbar.

Das Geräusch, das die grauen Engel verursachen, ist in der ersten Folge über weite Teile noch nicht zu deuten, wird im Verlauf der Serie fast schon leitmotivisch eingesetzt und wird zum unverkennbaren Zeichen einer Geräuschkulisse in der sie sich aufhalten sollen. Auch hier kommt wieder der Umstand zum Tragen, dass ein Hörspiel keine visuellen Informationen liefert. Abermals wird aus einem Mangel eine Möglichkeit geschaffen.

Das bedeutet aber auch, dass die Erzählung anhand der beiden Möglichkeiten, die hier beschrieben wurden, grundsätzlich nicht unzuverlässig sind. Vielmehr verhält es sich so, dass der Hörer die gegebenen Informationen nicht richtig zu deuten vermag[46]. Dies liegt aber nicht am soziokulturellen Hintergrund des Rezipienten[47], sondern vielmehr am Medientext Hörspiel. Damit muss neben dem Hörer als unzuverlässigen Empfänger, der Struktur des diegetischen Inhalts auch das Zeichensystem des Mediums Hörspiel besonders berücksichtigt werden. Die Möglichkeit der „inneren Bühne“ birgt zugleich die Möglichkeit, dass der Hörer mit der Anwendung seines sonstigen „Weltwissens“[48] auf die Erzählstruktur des Hörspiels auf einen falschen Weg geführt werden kann. Eine konkrete „Schuldzuweisung“ kann hierbei nicht erfolgen, vielmehr ist es ein Resultat aus den gegebenen Umständen. Die Erzählung ist grundsätzlich in den zuvor dargelegten Beispielen nicht unzuverlässig, das Medium macht sie unzuverlässig. Die Mittel des underreporting und misreporting, die zu Unzuverlässigkeit führen können, sind gewissermaßen Bestandteil des Medientextes Hörspiel. Im Zusammenspiel mit einem Hörer, dessen Weltwissen nicht immer allgemein vorhersehbar ist und dessen Wahrnehmung kausale Zusammenhänge herzustellen versucht, ergibt sich aus der Summe aller möglichen Informationen und Nicht-Informationen und dem beschriebenen, unzuverlässigen Empfänger eine Möglichkeit zur hörspielimmanenten Unzuverlässigkeit.


7 Schlussbemerkungen
Ziel dieser Arbeit war es, unzuverlässige Erzählstrukturen im Medientext des Hörspiels herauszuarbeiten. Dazu war es wichtig die fünf wichtigsten Erzählinstanzen und deren Verknüpfungen untereinander zu untersuchen.

Auf der diegetischen Ebene darf das Hörspiel meiner Ansicht nach durchaus mit einem Spielfilm verglichen werden. Schließlich handelt es sich auch beim Einsprechen eines Hörspiels um eine schauspielerische Leistung, bei der lediglich die Bildinformation wegfällt. Gleichzeitig geht es auch im Hörspiel um die Realisierung eines Scripts, inklusive Regieanweisungen und Rollenbeschreibung. Dementsprechend wird auf dieser diegetischen Ebene mit den gleichen Mittel wie im Film Unzuverlässigkeit erzeugt. Unzuverlässigkeit, die ausschließlich nur im Universum des Hörspiels stattfinden kann, betrifft dann auch die Zeichensysteme, die für die Erzeugung einer Realitätserfahrung am wichtigsten sind; Stimme und Geräusch. Dabei kommt der Stimme die Funktion eines Gesichts zu, die für die dramatische Figur steht. Die Geräusche betten diese Stimmen dann in eine Umwelt und erzeugen zusammen die jeweilige Realität des Hörspiels. Leichte Veränderungen an der Stimme oder die kurzzeitige Verbindung eines Geräusches mit einer anderen Quelle führen den Hörer in die Irre, da er keine weiteren Möglichkeiten zur Verifizierung seiner auditiven Wahrnehmung hinzuziehen kann. Um diesen Umstand zu begegnen, muss hier wohl auch immer vom unzuverlässigen Empfänger gesprochen werden, der seine Wahrnehmungs-gewohnheiten nicht so einfach ablegen kann und somit die hörspielimmanenten Unzu-verlässigkeiten durchaus begünstigt.

Zugegebenermaßen ist die kurze Auseinandersetzung mit der Subjekt/Objekt-Problematik eher zufällig entstanden, versucht aber aufzuzeigen, wie schwierig eine eindeutige Zuordnung einer Wahrnehmung im Hörspiel mitunter geraten kann. Einmal mehr muss hier die mangelnde Bildinformation als Sündenbock herhalten. Wo eine Kamera im Spielfilm den Zuschauer verortet und als Korrektiv für die Wahrnehmung fungieren kann, müssen im Hörspiel andere Strategien entwickelt werden, um eine Eindeutigkeit herzustellen. Diese sind vor allem in der Nachbearbeitung der Audiodaten zu finden. Indem das Klangbild sich vom normalen und durchgängigen Klangbild des Hörspiels unterscheidet, können Perspektiven verschoben werden.

Ich habe mich in dieser Arbeit auf den Typus des Hörspiels beschränkt, der sich der Alltagssprache bedient, um den Inhalt des Drehbuchs als Realitätserfahrung vermitteln zu können, da er mir zum einen als zugänglichste Form erschien und zum anderen eine recht hohe Verbreitung vorweisen kann. Die Einbindung von Originalton-Hörspielen und experimentellen Hörspiel erschien mir wenig sinnvoll, da diese beiden Formen nicht stringent einer fiktiven Konstruktion folgen müssen und assoziativer – vielleicht sogar beliebiger – vorgehen können, womit die Herausarbeitung unzuverlässiger Erzählstrategien anhand eines diegetischen Ablaufs nicht hätte gewährleistet werden können. Ich denke dabei unter anderem an die Originalton-Hörspiele von Christoph Schlingensief wie „Lager Ohne Grenzen“ oder „Rocky Dutschke ´68“, die zwar einem Thema folgen, aber keinen festen narrativen Strang aufweisen können und in diesem Sinne für die Untersuchung nicht in Frage kamen.


8 Bibliographie

Jörg Helbig (Hrg.). Camera doesn´t lie. Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film. Trier 2006. Darin: Eckart Voigts-Virchow. „I´ll show you the life of the mind!“. Implizite Autoren, Metnarrativität, unzuverlässiges Erzählen und unzuverlässige ´Wahr-Nehmung´ in Joel Coens Barton Fink und Spike Jonzes Adaptation.

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Götz Schmedes. Medientext Hörspiel. Ansätze einer Hörspielsemiotik am Beispiel der Radioarbeiten von Alfred Behrens. Münster 2002.

Michael Töteberg (Hrsg.). Metzler Film-Lexikon. Stuttgart 2005.


[1] Vgl. Pressemeldungen, zusammengetragen auf www.gabrielburns.de und www.experiment-stille.de
[2] Michael Töteberg (Hrsg.). Metzler Film-Lexikon. Stuttgart 2005.
[3] Ira Konigsberg. The Complete Film Dictionary. New York 1987. S. 230f.
[4] Michael Töteberg (Hrsg.). Metzler Film-Lexikon. Stuttgart 2005.
[5] Thomas Koebner (Hrg.). Reclams Sachlexikon des Films. Stuttgart 2002. S. 563f.
[6] Stefan Bodo Würffel. Hörspiel. In: Meid (Hsrg.). Sachlexikon Literatur. München 2000. S. 389
[7] Götz Schmedes. Medientext Hörspiel. Münster 2002. S. 16
[8] Mechthild Hobl-Friedrich. Die dramaturgische Funktion der Musik im Hörspiel. Erlangen-Nürnberg 1991. S.19
[9] Ebd.
[10] Stefan Bodo Würffel. Hörspiel. In: Meid (Hsrg.). Sachlexikon Literatur. München 2000. S. 389
[11] Vgl. Götz Schmedes. Medientext Hörspiel. Münster 2002. S.17
[12] Ebd. S. 100f.
[13] Vgl. ebd. S. 18
[14] Ebd. S. 15
[15] Ebd. S. 71
[16] Vgl. ebd. S. 72
[17] Vgl. ebd. S. 73
[18] Ebd.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Ebd.
[22] Ebd. S. 74
[23] Die Eindeutigkeit dieser Zuordnung wird im Kapitel über unzuverlässige Erzählstrategien hinterfragt.
[24] Götz Schmedes. Medientext Hörspiel. Münster 2002. S. 74
[25] Vgl. Ebd. S. 75
[26] Ebd. S. 77
[27] Ebd.
[28] Ebd.
[29] Vgl. Ebd.
[30] Ebd. S. 78
[31] Ebd. S. 80
[32] Ebd.
[33] Ebd.
[34] Ebd. S. 81
[35] Ebd.
[36] Ebd. S. 82
[37] Ebd.
[38] Ebd.
[39] Griem/Voigts Virchow. Filmnarratologie: Grundlagen, Tendenzen und Beispielanalysen. 2002. S. 169
[40] Ebd.
[41] Jörg Helbig. „Follow The White Rabbit!“. In: Fabienne Liptay, Yvonne Wolf (Hrsg.). Was stimmt denn jetzt?. Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film. München 2005. S. 135
[42] Ebd.
[43] Vgl. Eckart Voigts-Virchow. „I´ll show you the life of the mind!“. In: Jörg Helbig (Hrsg.). Camera doesn´t lie. Spielarten erzählerischer Unzuverlässigkeit im Film. Trier 2006. S. 109
[44] Im Bonusmaterial der DVD „Die drei ??? und der Super-Papagei Live 2004“ zeigt der Geräuschemacher des Live-Hörspiels, wie er den charakteristischen Kreissägen-Sound auf dem Schrottplatz von Titus Jonas herstellt; indem er einen batteriebetriebenen Milchaufschäumer an einen Plastiktrinkbecher hält.
[45] Vgl. Götz Schmedes. Medientext Hörspiel. Münster 2002. S.64f.
[46] Vgl. Ansgar Nünning (Hrsg.). Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier 1998. S. 22f
[47] Vgl. ebd.
[48] Ebd.
Eingestellt von Alexander Schnücker
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